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Der Ruf nach Aufrüstung der Schweizer Armee ist unsinnig

fluri tweet 220304

In Europa hat erstmals seit dem 2. Weltkrieg ein Land dem andern den Krieg erklärt. In der Schweiz rufen sofort Rechtsbürgerliche nach Aufrüstung. Weshalb das unsinnig ist, die Schweizer Armee mit Flugzeugen und Panzern aufzurüsten, lehrt uns der Fall Ukraine auf eindrückliche Weise.

Ich verfolge die Nachrichten täglich, durchkämme die Artikel des Tages-Anzeiger, der Basler Zeitung und vor allem des Guardian mehrmals, schaue jeden Tag die Tagesschau, und kann immer noch nicht ganz realisieren, dass in Europa Krieg herrscht.

Aber doch herrscht Krieg. Und das, was mich am meisten irritiert, ist der Hauptdarsteller: Russland. Wenn es nicht Russland gewesen wäre, wäre es China gewesen, nur macht China seinen Einfluss in der Welt allein mit seiner Wirtschaftsmacht geltend. Russland war schon in Georgien und Tschetschenien mit Truppen aktiv, griff in Syrien gegen die Rebellen ein, hat weiterhin einen Fuss in Abchasien und Südossetien. In Russland ist politische Opposition chancenlos, wichtige Gegenspieler Putins werden mit Nowitschok vergiftet, der Polizeistaat greift in den Strassen rigoros durch. Zur Erinnerung: Ein Poizeistaat ist praktisch feste Grundlage für ein faschistisches Land. Auch Grundlage für einen faschistischen Staat: Staatspropaganda, die dem Feind die Schuld für alle Probleme des Landes zuschreibt. Der Feind? Der Westen. Der gleiche Westen, mit dem man Geschäfte macht. Der Westen und seine verfluchten Demokratien, sein feiger Friede, sein schäbiger Wohlstand, seine unerträglichen Freiheiten.

Ist der Westen derart ein Feindbild für Putin, weil er mit Liberalismus, freier Meinungsäusserung und friedlichen Machtwechseln an der Spitze eine ausgewogene Stabilität erreicht hat? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass diese Grundwerte in Russland unter Putin nicht gelten. Er hat sich selbst seit über 20 Jahren mit Tricks und Verfassungsänderungen an die Macht gehalten – Verfassungsänderungen, die nur deswegen möglich waren, weil in der Duma nur ihm genehme Parlamentsmitglieder sitzen, eine Applaudierbude also, und weil die Propagandamaschinerie über die vielen staatlich kontrollierten Sender und Medien ständig gut geölt ist. 

Es ist möglich, dass die Ukraine nur der Anfang ist

Dass Russland die Ukraine nun gänzlich auseinandernimmt, um sie wie Weissrussland zu einem satellitären Staat zu machen, mit einem Präsidenten nach Putins Gnaden, ist absehbar. Ob Selenskiy den Krieg überlebt, ist zu bezweifeln. Es wäre schon grossartig, wenn er bis Ende Juni überlebt. Nun muss Europa wieder aufrüsten, denn mit der Ukraine ist möglicherweise erst der erste Schritt einer gnadenlosen Ausweitung des Einflussgebietes Russlands, die möglicherweise auch die Baltischen Staaten westlich von Weissrussland betrifft. Russland kriegt sich bis zur EU-Grenze durch; das ist eine Befürchtung, die so unrealistisch nicht erscheint.

Russland höhlt die Ukraine aus, weil sie auf der Kippe war, Teil der NATO zu werden. Nun, die NATO ist ein Verteidigungsbündnis. Ein Verteidigungsbündnis kann nur für ein Land gefährlich sein, das kriegerisch handeln will. Hätte Putin nicht schon lange vorgehabt, militärisch gegen Westen voranzuschreiten, hätte ihm egal sein können, ob die Ukraine der NATO angehört. Sein Krieg kommt jetzt, weil in wenigen Jahren kein Krieg mehr möglich wäre, wenn die NATO die ukrainische Grenze verteidigen müsste. Dass sich die NATO sogar dagegen ausspricht, den Flugraum auf ukrainischem Gebiet zu kontrollieren, gibt Putin sozusagen Recht.

Deutschland will jetzt aufrüsten und erhöht seine militärischen Ausgaben. Ausgerechnet die SPD und die Grünen haben die Aufrüstung beschlossen. Nun kommen in der Schweiz Rufe nach Aufrüstung, und aus der FDP (Kurt Fluris Tweet im Bild) und SVP (Werner Salzmann in der Arena) kommen die bescheuerten Rufe, die Grünen und SP in der Schweiz sollten von ihren schlauen grossen Geschwistern Deutschlands ein Beispiel nehmen.

FDP und SVP sieht keinen geopolitischen Unterschied zwischen der Ukraine und der Schweiz

Nun, dieser Vergleich allein ist schon idiotisch genug. Deutschland ist Teil der EU, die EU hat eine gemeinsame Grenze mit der Ukraine und den Baltischen Staaten. Die Aufrüstung ist eine direkte Handlung auf eine echte Bedrohung. Die EU will sicherstellen, dass sie ihre Grenze im Osten schützen kann, natürlich auch mit deutscher Beteiligung. Das ist natürlich durchaus vernünftig, dass die Bundesregierung mit SPD und Grünen (ja, und FDP) jetzt, wo es nötig ist, die Aufrüstung beginnt. Dafür muss man keine rechtsbürgerliche Partei sein, um den Sinn dahinter zu sehen.

Dass die Schweizer Grünen und SP halt eben auch so intelligent sind wie die Deutschen, und genau darum nicht aufrüsten wollen, verstehen die rechtsbürgerlichen Parteien nicht. Sie verstehen nicht, dass die Schweiz nicht an die Ukraine grenzt, und sowohl von der EU umschlossen ist, als auch von der NATO. Also im Prinzip entweder von der EU – ein Friedensprojekt, notabene – angegriffen wird, und das von allen Seiten, oder von der EU und NATO geschützt ist. Wenn ein Land die Schweiz angreifen will, dann sicher nicht militärisch, wie das jetzt in der Ukraine passiert. Eine Aufrüstung in Kampfjets und Truppen, wie sie Fluri und Salzmann und ihre Parteien wünschen, macht auch jetzt in dieser Krisenzeit keinen Sinn – ausser, wenn totale Geldverschwendung plötzlich das neue Credo der Schweizer Steuergeld-Sparfüchse geworden sein soll.

Zudem lässt sich aus der jetzigen Entwicklung eines sagen: Die Ukraine erfährt unglaubliche Unterstützung aus aller Welt – warum sollte Europa die Schweiz dagegen im Fall eines Angriffs fallenlassen? Etliche europäische Länder schicken Kriegsmaterial in die Ukraine; Litauen erlaubt seinen Bürgern sogar, sich dem ukrainischen Militär anzuschliessen, ohne sich für Fahnenflucht verantworten zu müssen. Dabei hat die Ukraine dem Westen nicht viel zu bieten.

Wenn die Schweiz angegriffen würde, würde uns ganz Europa verteidigen

Ganz im Gegensatz zur Schweiz. Wie wichtig die Schweiz für alle benachbarten Länder ist – wie viel wichtiger als die Ukraine, wenn man mir diesen Vergleich verzeihen möchte – lässt sich nur erahnen. Wenn ein Russland oder ein China der Schweiz militärisch droht, dann kannst du sicher sein, dass schon hunderte, vielleicht tausende Kampfflugzeuge aus allen Ländern in Europa den Himmel über dem Mittelland schützen, und zwar von allen Richtungen, noch bevor eine Woche vergangen ist. Wir in der Schweiz können uns sicher sein: Militärisch brauchen wir überhaupt nichts zu machen, solange die Länder in Europa ihre Armeen haben. Die Schweiz wird viel besser geschützt werden, als jetzt die Ukraine geschützt wird.

De facto ist eine Aufrüstung in einem anderen Gebiet wichtig: Dem Cyberkrieg. Die Schweiz ist in Sachen IT am angreifbarsten. Und darin sind gerade die Russen unter Putin besonders spezialisiert: die moderne Kriegsführung geht über Propaganda, Desinformation und insbesondere Cyberattacken auf sensible Institutionen. Kraftwerke, Energiewerke, staatliche Institutionen zum Schutz der Bevölkerung – diese müssen wir besser schützen als bis heute. Und zwar mit dem Geld, das wir dummerweise für völlig idiotische Kampfflugzeuge reserviert haben.